Im Orbit

Wer sich davonstehlen will von ‘unserem’ Planeten, zumindest virtuell, kann dessen angestaubte Atmosphäre verlassen, indem er sich einem Delta-Gleiter anvertraut, um sich mühe- aber nicht gedankenlos ins All zu versetzen. Dahinter steckt ein ausgeklügeltes Programm namens Orbiter, ein Space Flight Simulator von Martin Schweiger, kostenlos und anspruchsvoll, der von allen Seiten unterstützt wird. Inzwischen gibt es diverse Ergänzungen und Erweiterungen des Szenarios, das grafisch und physikalisch ein einziges Lehrstück ist, ohne auch nur im geringsten daran zu erinnern. Es läßt sowohl die echte Physik des Planetensystems anschaulich werden, als auch die echte Technik, frei von der ansonsten überall anzutreffenden Umdeutung durch aggressive Computerspielereien, welche am rücksichtslosen Kriegszustand primitiver Individuen interessierter sind als an irgendeiner intellektuell angehauchten Auseinandersetzung mit komplexen Wechselwirkungen in der wirklichen Natur. Nicht auf das blinde Einsammeln erwerbbarer Punkte kommt es an, nicht darauf, sich in einem ausgedachten engen Spielraum auszukennen, sondern darauf, einen echten Ausflug zu machen, um sich mit offenen Augen in die Weite des Raums zu begeben. Dort einigermaßen zurechtzukommen, fiktiv oder nicht, läßt alberne Spielchen verblassen, weil es darum geht, Gesetzmäßigkeiten zu begreifen, die sich nicht durch geeignete Gadgets überspielen oder durch forsches Auftreten umgehen lassen. Kampf ist nicht angesagt, nur mit sich selbst kämpft man im Orbit sowie bei der Rückkehr, denn nichts geht einem leicht von der Hand, wenn man die Steuerung selbst übernimmt. Die Komplexität der Simulation und das Spektrum wichtiger Parameter ist beeindruckend, auf unrealistische Effekte wird verzichtet, und der entwaffnende technische Aufwand sorgt völlig waffenfrei für eine angespannte Stimmung, anfänglich schwankend zwischen unterschwelliger Aufregung und schierer Verzweiflung. Um in den Orbit zu gelangen, sind keine unbekannten Gegner auszuschalten, sondern bekannte Gesetze auszunutzen. Der menschlichen Natur liegt wohl nur eines von beidem, ohne selbst Schaden dabei zu nehmen. Mit ‘Orbit’ ist vielleicht auch gemeint, sich auf zuverlässiger Bahn zu bewegen, einer eleganten Kurve folgend, im Einklang mit allem, was es außer uns gibt, außer Irdischem. Keine Spur absichtlicher Vernichtung oder unabsichtlicher Zerstörung hinter sich herzuziehen, wäre etwas, das sich zu lernen lohnt. Sei es auch bloß am Computer. Wie es am Bildschirm zugeht, zeigt auch manches, was auf keinem Bildschirm zu sehen ist und in Wirklichkeit ganz anders aussieht. Was über den Schirm flackert, ersetzt den Widerschein des Feuers an den schlichten Wänden der eigenen Höhle. Den Blick abzuwenden, gelingt nicht ohne weiteres, aber um am Schirm den Alltag zu vergessen, scheint das All einen Ausweg zu bieten. Ablenkung ist es nicht, worauf es ankommt. Was sich als Progamm bei ‘http://orbit.medphys.ucl.ac.uk/orbit.html’ herunterladen läßt, wirkt wie Science-Fiction und Science-Friction zugleich. Es wird einem eine ernsthafte Anstrengung abverlangt, bei der man buchstäblich den Boden unter den Füßen verliert.

(Copyright by Peter Gold)

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