Als Achter

Als Achter
Eine Existenzfrage oder ein Mißverständnis
{aufzuführen statt eines langwierige(re)n Kolloquiums}

A: Ich werde gleich eine Behauptung aufstellen.
B: Da bin ich aber mal gespannt.
A: Warte noch einen Augenblick, ich muß erstmal die Hände aus der Tasche ziehen, weil ich meine Finger dazu brauche.
B: (wartet geduldig)
A: (blickt auf seine Finger)
B: Und?
A: 8!
B: Was?
A: Na, Menschen.
B: Wo?
A: In diesem Raum.
B: Und die anderen? (blickt sich um)
A: Alle versteckt.
B: (erschrocken) Ich dachte, wir wären allein.
A: Dachte ich auch, hab’ aber noch 6 entdeckt.
B: Wo sind die denn?
A: Da! (spreizt die fünf Finger der einen Hand und zeigt mit dem Zeigefinger der ande-ren Hand in Richtung eines Vorhangs)
B: Meinst Du die Schatten?
A: Das sind die Schatten von Menschen. Es sind genau 6. (hält die geballte Faust und den erhobenen Zeigefinger nebeneinander)
B: Wer weiß, was für Schatten das sind?
A: Sie haben sich gerade eben noch bewegt.
B: Das war nur der Vorhang, der sich bewegt hat, weil sowohl die Tür als auch das Fenster offen steht. Der Luftzug …
C: (tritt hinter dem Vorhang hervor) Denkste!
A: Ich hab’s ja gewußt.
B: Ich hätt’s nicht geglaubt.
C: Es stimmt aber nicht.
A: Was stimmt nicht?
C: Es war kein Schatten von jemand anderem als mir zu sehen.
B: (schaut auf den Vorhang) Jetzt sind alle Schatten verschwunden.
C: (grinsend) Es sind 3 Lampen und 1 Spiegel hinter dem Vorhang.
B: Das gibt 6 Schatten?
C: So ist es.
B: Es sind also 3 Menschen in diesem Raum.
A: Willst Du auch eine Behauptung aufstellen?
B: Dazu brauche ich nicht mal meine Finger.
A: Und wenn sich die anderen nur flach hingelegt haben?
B: Gehen wir nachsehen.
C: (ruft) Kommt raus, Leute!
D: (kriecht behende auf dem Boden) Ich bin der 1.!
E: (kriecht murrend auf dem Boden) Ich bin ganz staubig!
F: (kriecht brummend auf dem Boden) Ich bin kein Mensch!
G: (kriecht behäbig auf dem Boden) Ich bin nicht der 8.!
H: (kriecht auf dem Boden, sich umsehend) Wo ist denn der letzte geblieben?
C: Den letzten gibt es nicht.
A: Soll das jetzt wieder eine Behauptung sein?
C: Na klar.
A: (mißtrauisch) Du hast schon einmal gelogen.
C: Habe ich nicht.
B: Die Lampen und den Spiegel hast Du erfunden.
C: Die gibt es wirklich. (tritt kurz hinter den Vorhang, und es zeigen sich wieder die Schatten)
H: Wann fängt das Kolloquium endlich an?
C: Es hat schon längst begonnen.
H: Und warum sollten wir uns verstecken?
C: Damit wir anschließend etwas zu diskutieren haben.
A: Was gibt es denn noch zu sagen? Ich hatte doch recht.
B: Wenn schon – die Gründe taugten nichts.
C: (nachdrücklich) Er hatte nicht recht.
A: (irritiert) Gibt’s denn noch mehr hinter dem Vorhang?
B: (gewieft) Vielleicht nicht, aber einer ist ja kein Mensch.
A: (gelassen) Sagt er.
C: (jedes Wort betonend) Es gibt keinen letzten.
B: Soll das etwa heißen …?
H: Genau. (ruft) Der nächste bitte! (es erscheint niemand)
A: Na bitte.
H: Das beweist gar nichts. Ich bin nicht der letzte, der verspätet zum Kolloquium erscheint. Der nächste kommt gleich. Aber er wartet noch so lange, bis es eine echte Überraschung wird. Bis niemand mehr damit rechnet. (murmelnd) Immer dasselbe, will alle hinters Licht führen, wartet einfach ab, der Schlingel, sein Auftritt soll Aufmerksamkeit erregen.
B: (nachdenklich) Was ist die Fragestellung des Kolloquiums?
A: Ich stellte eine Behauptung auf.
B: Aber wie lautet die Frage?
A: (gewichtig) Die Frage lautet: Stimmt die Behauptung? Und die Antwort lautet: Ja!
B: (ironisch) Dann kann es ja endlich losgehen.
A: (an alle gerichtet) Jeder kann doch überprüfen, ob die Behauptung stimmt oder nicht.
C: (bescheiden) Ich nehme an, daß wir anderen uns an der Diskussion beteiligen dür-fen.
A: (empört) Wozu eine langatmige Diskussion? Es geht nur darum, alle Menschen in diesem Raum abzuzählen. Das ist fix erledigt. (zieht wieder die Hände aus den Taschen)
B: Eben nicht. Zählen kann jeder. Es kommt darauf an, was wir zählen.
A: Menschen.
B: Alle Menschen.
C: Alle Dinge in diesem Raum, die Menschen sind.
D: Jedes Ding, das in diesem Raum ist, und jedes Ding, das ein Mensch ist.
F: Nein, nur jedes Ding, das sowohl in diesem Raum als auch ein Mensch ist.
G: Also jeden Menschen, der in diesem Raum ist.
H: Es sind aber noch mehr da.
A: Wo?
H: Hier, in diesem Raum.

Es entspinnt sich ein schier endloser Disput mit Gesprächsfetzen wie etwa: (wohlwollende Wertungen:) „naheliegender Irrtum“, „schlicht und einfach sinnlos“, „absolut überflüssig“, „relativ unreflektiert“, „beinahe richtig, genauer gesagt, nicht unbedingt grundfalsch“; (nüchterne Wahrheiten:) „es gibt nicht mehr Dinge hier und jetzt als es hier und jetzt gibt“, „aber auch nicht weniger“; (schlagende Argumente:) „das ist doch selbstverständlich“, „das ist selbstverständlich absolut unverständlich“; (kühne Vermutungen:) „das habe ich nicht gesagt“, „das habe nicht ich gesagt“; (metatheoretische Einsichten:) „das glaubt der/die ja selber nicht“, „darum geht es doch gar nicht“, „das habe ich zwar nicht so gemeint, aber wenn ich es so gemeint hätte, wäre es eigentlich auch nicht verkehrt gewesen“, „das ist kompliziert genug, um offensichtlich irrelevant zu sein“; (anerkennende Zustimmung:) „dasselbe hat Wittgenstein übrigens auch gesagt, nur etwas anders“, „das hat überhaupt nichts mit Philosophie zu tun“; (weiterführende Fragestellungen:) „wieso werden bei manchen nicht gebundenen Büchern die Buchrücken mürbe und brechen, bei anderen aber nicht?“, „ob mir wohl auch so eine Gleitsichtbrille stehen würde, die man nicht dauernd abzunehmen braucht?“; (tiefe Geheimnisse:) „warum scheint es nicht nur so, als würden sich immer die anderen irren, während es den anderen nur so scheint, als wäre es genau umgekehrt?“, „warum werde ich so selten zitiert?“

(etwas später)

A: Wer hat mehr als 8 gezählt? (blickt um sich)

B: Wer hat weniger als 8 gezählt? (blickt um sich)

C: (einlenkend) Es hat niemand mehr als 8 und niemand weniger als 8 gezählt. Also 8, nicht mehr und nicht weniger. Und jetzt?
I: (erscheint) Ich bin auch noch da.
H: Welch ein selbstgefälliger Auftritt.
G: Das zählt nicht.
F: Das war’s dann ja wohl.
E: (jandelt) Werch ein Illtum.
D: Wäre ich bloß nicht mitgekommen.
C: (an einige der anderen gerichtet) Laßt uns wieder verschwinden!
B: Zu dumm, daß ihr überhaupt da wart. Es wäre alles so einfach gewesen. (sieht ihnen nach, wie sie hinter den Vorhang kriechen)
A: (nimmt die Hände aus den Taschen und betrachtet seine Finger) Ich werde gleich wieder eine Behauptung aufstellen.
C: (nicht mehr sichtbar, leise) Diesmal werden wir keinen einzigen Schatten werfen.
B: Es ist nicht dasselbe wie vorher.
C: (hörbar, aber unsichtbar) Sagte ich doch.
B: Das meine ich nicht. Ich meine ganz etwas anderes.
A: Was kam nochmal nach 8?
B: 9!
A: (seelenruhig) Es gibt 9 Menschen in diesem Raum.
B: Ist das die Behauptung?
A: Hast du was anderes erwartet?
B: Eigentlich nicht.

(Copyright by Peter Gold)

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