Seminar: »Theorie der Fotografie«

Mein Seminar zur »Theorie der Fotografie« im Sommersemester 2010 findet ab 12.04.10 montags von 16:00-18:00 Uhr in Raum NG 731 am Campus Westend der Universität Frankfurt statt.

Die Theorie der Fotografie ist ein umstrittenes Thema. Der eigenartige Status fotografischer Bilder stellt nach wie vor ein ungelöstes Problem dar. Seit ihrer Erfindung wurde die Fotografie begleitet von kontrovers geführten Auseinandersetzungen theoretischer Art, nicht unbeeinflußt von Verbesserungen technischer Art, um eine Auf- oder Abwertung der Fotografie insgesamt vorzunehmen, je nachdem wie fotografische Aufnahmen gegenüber anderen Bildern eingestuft wurden. Bis in die Gegenwart ist die Theorie dessen, was Fotografie als solche ausmacht, als Desiderat angesehen worden. Das liegt nicht zuletzt an der Vielschichtigkeit des eigentlichen Problems; involviert ist unter anderem die Semiotik sowie die Ästhetik und nicht zuletzt die Epistemologie, abgesehen von der engen gesellschafts- und medientheoretischen Anbindung. Was zeigen Fotografien und wie zeigen sie es? Es geht vor allem um die Einschätzung ihres Wahrheitsgehalts, verglichen mit der unmittelbaren Wahrnehmung realer optischer Phänomene. Weiter fragt sich, inwieweit die Fotografie ohne konventionelle Dimension auskommt, oder ob irgendwelche arbiträren Zeichensysteme beansprucht werden. Außerdem geht es darum, welcher ästhetische Wert der fotografischen Wiedergabe zugemessen wird, verglichen mit tradierten und seither konkurrierenden Darstellungsweisen in der etablierten Kunst, zu der die Fotografie inzwischen auch zählt. Kommt in der Fotografie beispielsweise so etwas wie Abstraktion vor, ohne daß letztere allein im Auge des jeweiligen Betrachters liegt? In allen Fragestellungen spielt einerseits die Technik der Fotografie eine Schlüsselrolle, andererseits wird die Rolle üblicher Zeichen, deren enge semiotische Bindung an syntaktisch-semantische Kontexte sich nicht ohne weiteres auf Fotografien überträgt, in Frage gestellt. Trotzdem gibt es eine unübersehbare Kontextabhängigkeit. Wie scharf anscheinend zwischen abgebildeter Wirklichkeit und abstrahierender Deutung zu unterscheiden ist, verwischt sich zusehends, wenn visuelle Medien auf genuin fotografische Abbildungen zurückgreifen, um sie nachträglich zu verändern oder zu verfälschen, oder wenn quasi-fotografische Darstellungen generiert werden, um Irreales oder Nichtreales zu illustrieren. Echte Fotografie definiert sich vielleicht anderweitig, etwa wo sie privat kontrollierbar bleibt, ohne stilistisch überformt oder medial überfrachtet zu werden, oder indem sie naturwissenschaftlich eingesetzt und ausgewertet wird, oder überall dort, wo zahllose ungezielte Aufnahmen anfallen, die in vorgegebenen Intervallen abgerufen werden. Selbst wenn unverfälschte Fotografie eine Illusion wäre, würde durch Fälschbarkeit ein Wahrheitsanspruch nur unterstrichen, nicht verworfen. All das bedingt die doppelbödige Authentizität von Fotografie.

Als Literatur zur Einführung in die Problematik bieten sich folgende Titel an:

  • Edwards, Steve: Photography. A Very Short Introduction, Oxford, New York 2006
  • Elkins, James, (ed.): Photography Theory, New York, London 2007
  • Friedrich, Thomas / Schweppenhäuser, Gerhard: Bildsemiotik. Grundlagen und Analysen visueller Kommunikation, Basel, Boston, Berlin 2010
  • Geimer, Peter: Theorie der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009
  • Gold, Peter: „Bild und Negat“, in: Sachs-Hombach, Klaus, (ed.): Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktorialer Repräsentationen, Amsterdam 1995
  • Hockney, David: Secret Knowledge. Rediscovering the Lost Techniques of the Old Masters, New and expanded Edition, London 2006
  • Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main, New York 2009
  • Kemp, Wolfgang / Amelunxen, Hubertus v., (ed.): Theorie der Fotografie, Bd.I-IV, München 1999/2000
  • Shore, Stephen: The Nature of Photographs, London, New York 22007
  • Squiers, Carol, (ed.): Over Exposed. Essays on Contemporary Photography, New York 1999
  • Trachtenberg, Alan, (ed.): Classic Essays on Photography, New Haven 1980
  • Wolf, Herta, (ed.): Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalter. Bd.1: Paradigma Fotografie, Bd.2: Diskurse der Fotografie, Frankfurt am Main 2002/2003

Legendäre Schwarzweiss-Fotografie

Unter dem ‚summarischen’ Titel »Ansel Adams, 400 Photographs« ist ein aufwendiger Bildband erschienen, der mit den wichtigsten Fotografien eines der wichtigsten Fotografen aufwartet. Von Andrea A. Stillman herausgegeben, macht sich dieser empfehlenswerte Band zur Aufgabe, die chronologische Entwicklung stilistisch und thematisch vor Augen zu führen, die bei Ansel Adams von den Anfängen im Jahr 1916 bis zum Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts reicht.

Zur Vergangenheit gehören sie jedoch nicht, die legendären Fotografien der legendären Figur in der Fotografiegeschichte, die uns allen zeigten, wie Landschaft aussieht und was Landschaft ausmacht. Der Fotograf selbst hat bis zu seinem Tod im Jahr 1984 fast dreißig Bücher mit seinen schwarzweißen Fotografien herausgegeben, und außerdem noch zehn Bücher zur fotografischen Technik verfaßt. Bei Adams sind Technik und Ästhetik eng verschränkt, wie man weiß. An das weitverbreitete Zonensystem, an dem Adams’ Name ohnehin unsichtbar haftet, braucht niemand erinnert zu werden, der sich mit analoger Fotografie auskennt. Die unverkennbare Abstufung zwischen hellsten und dunkelsten Grauwerten, die den vollen Spielraum zwischen reinem Schwarz und reinem Weiß ausschöpft, bildet das ästhetische Kennzeichen von elaborierter Schwarzweißfotografie schlechthin, an deren Dramaturgie sich seit jener Zeit wenig geändert hat. Die Bilder sprechen für sich. Mit der Tiefenschärfe oder mit Bewegungsunschärfe wird bei Adams übrigens nicht experimentiert. Maßgeblich ist sozusagen die Einstellung von »f/64«, der Gruppe wie der Blende.

Der begleitende Text zu Adams’ Bildern, die in seltener Kontinuität vor Augen geführt werden, unterstreicht die ästhetischen Absichten und technischen Fähigkeiten des Fotografen, der sich bei der Arbeit ab und zu über die Schulter schauen läßt. Nicht nur seine Fotografien sind inzwischen Ikonen, sondern als Fotograf ist er selbst zur Ikone geworden. Im Text wird Adams’ Image nicht angetastet. Auch magische Anklänge werden nicht vermieden, weil keine bloße Technik und keine klare Ästhetik mit der verklärten Magie fertig wird, die anscheinend immer wieder durchschimmert. Ent-Täuschung wird nicht geschätzt, und auch nicht mit Bindestrich geschrieben, und so bleibt das Gegenteil gefragt. Es macht vielleicht nichts, wenn die Legende um Ansel Adams weitergesponnen wird, schließlich weiß man als Fotograf nur zu gut, was machbar ist und was nicht, ohne technische Grenzen tendenziell zu verkennen. Es macht vielleicht auch nichts, wenn fotografische Laien sich jenseits solcher Grenzen wähnen, während sie geheimnisumwittertes Können bewundern, das hinter bewunderungswürdigen Bildern steckt. Die Technik tritt öffentlich gern hinter die Magie zurück, seit sie alle Magie weit hinter sich gelassen hat.

»Adams had a rare gift: he was able to transform geographic reality into transcendent emotional experience. How did he accomplish this? Through hard work and experience, he developed a technical mastery that allowed him to photograph with facility and confidence. He could make a photograph in the rain or even in a snowstorm, and he could photograph a mountain thirty miles distant or a stump white with frost at his feet. In a pinch, he could even photograph a moonrise without a light meter, knowing only the candles per square foot of the moon. Moreover, his skills in the darkroom were unsurpassed, and he could make a gorgeous print from any negative, even a negative with problems.« [Andrea A. Stillman in: Ansel Adams, 400 Photographs, p.7f]

Im selben Buch ist abgedruckt, wie es sich bei Ansel Adams selbst anhört:

»With the camera assembled and the image composed and focused, I could not find my Weston exposure meter! Behind me the sun was about to disappear behind the clouds, and I was desperate. I suddenly recalled that the luminance of the moon was 250 candles per square foot. I placed this value on Zone VII of the exposure scale; with the Wratten G (No.5) deep yellow filter, the exposure was one second at f/32. I had no accurate reading of the shadow foreground values. After the first exposure I quickly reversed the 8 x 10 film holder to make a duplicate negative … but as I pulled out the slide the sunlight left the crosses and the magical moment was gone forever.« [zit. nach: Ansel Adams, 400 Photographs, p.420f]

Die 1941 entstandene Aufnahme ist, wie kaum ein anderes Bild, seitdem zum Inbegriff von Schwarzweißfotografie geworden, und wird bei Versteigerungen entsprechend gehandelt. Angeblich sind an die tausend Abzüge der Aufnahme gemacht worden. Nebenbei bemerkt, ist die Angabe des Filters falsch wiedergegeben, denn gemeint ist ein Wratten-Filter No.15 und nicht 5. Ausgerechnet dieses Bild war eines, dessen Belichtung ohne Adams’ sorgfältige Art des Messens zur Kontrastbestimmung zustande kam, wie sie für sein Zonensystem charakteristisch ist. Adams war stets darauf aus, den Zufall beim Belichten auszuschalten. Vom Zufall nicht im Stich gelassen zu werden, wenn es drauf ankommt, ist ein eigenartiger Wink. Als wäre eine Fotografie etwas, das einem, trotz allem, bloß zufällt. Wo sonst liegt das magische Moment des technischen Apparats? In seinem berühmten technisch-theoretischen Buch »The Negative« kommt Adams mehrfach auf die näheren Umstände der Entstehung jener berühmten Aufnahme zu sprechen, die ebenso typisch wie untypisch für ihn ist:

»Having emphasized the importance of careful exposure, I must also state that there are occasions when time pressure or equipment failure may require estimating exposure if any image is to be made a all. A case in point is my Moonrise, Hernandez, N.M., where I had to make an educated guess using the Exposure Formula, since I could not find my exposure meter. Knowing that the moon is usually about 250 c/ft² at this distance from the horizon, I used this value to make a quick calculation, and then made the exposure. As I reversed the film holder to make a second negative, I saw that the light had faded from the crosses! I am reminded of Pasteur’s comment that “chance favours the prepared mind”.« [Ansel Adams, The Negative, p.39]

Welche überschlägige Kalkulation Adams anstellte, läßt sich indes nicht nachvollziehen, wenn man den Lichtwert (LW oder EV) 9 mit 2800 lux oder 260 footcandle veranschlagt und den Filterfaktor 3 für den Gelbfilter berücksichtigt:

»I remembered that the luminance of the moon at that position was about 250 c/ft²; placing this luminance on Zone VII, I could calculate that 60 c/ft² would fall on Zone V. With a film of ASA 64, the exposure would be 1/60 second at f/8. Allowing a 3x exposure for the filter, the basic exposure was 1/20 second at f/8, or about 1 second at f/32, the exposure given. I had no idea what the foreground values were; but knowing they were quite low, I indicated water-bath development. The distant clouds were at least twice as luminous as the moon itself.« [Ansel Adams, The Negative, p.127]

Zur Bildmagie kommt noch die Zahlenmagie. Rechenfehler heben sich auf. Der Zufall hat dem gewieften Fotografen trotz allem einen Streich gespielt, wenn Adams wirklich so gerechnet hat, wie es angegeben worden ist. Take it easy.

»You don’t take a photograph, you make it«, sagt Ansel Adams. Im Gegenteil, würde ich sagen. Irrtum inbegriffen.

(Copyright by Peter Gold)

Lichtfleck im Schatten

Ob sich Licht wie ein Strom diskreter Teilchen ausbreite, oder ob es sich beim Licht um eine kontinuierliche Welle handele, war eine Frage, die sich in der bewegten Geschichte der physikalischen Theorie des Lichts nicht nur einmal stellte. Und mehr als einmal nahm die Geschichte eine Wende, die für Aufsehen sorgte.

“In 1818 Fresnel entered a competition sponsored by the French Academy. His Paper on the theory of diffraction ultimately won first prize and the title Mémoire Courronné, but not until it had provided the basis for a rather interesting story. The judging committee consisted of Pierre Laplace, Jean B. Biot, Siméon D. Poisson, Dominique F. Arago, and Joseph L. Gay-Lussac – a formidable group indeed. Poisson, who was an ardent critic of the wave description of light, deduced a remarkable and seemingly untenable conclusion from Fresnel’s theory. He showed that a bright spot would be visible at the center of the shadow of a circular opaque obstacle, a result that he felt proved the absurdity of Fresnel’s treatment. […] This surprising prediction, fashioned by Poisson as the death blow to the wave theory, was almost immediately verified experimentally by Arago; the spot actually existed. Amusingly enough, Poisson’s spot, as it is now called, had been observed many years earlier (1723) by Maraldi, but this work had long gone unnoticed.” [1]

Derselbe Arago war es übrigens, der später die Fotografie an der Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Schönen Künste in Paris vorstellte (1839) und die Erfindung damit einer breiten Öffentlichkeit bekanntmachte; nachdem Niépce und Daguerre das fotografische Verfahren weit genug entwickelt hatten, bis sich dessen Ergebnisse sehen lassen konnten.

Licht als physikalisches Phänomen sollte immer weitere Überraschungen bergen, die schließlich zu der modernen Physik führten, welche sich von der klassischen distanzierte. Wiederum spielte die Frage eine wichtige Rolle, was Lichtwellen eigentlich sind, und ob es nicht doch Photonen als Lichtquanten sind, welche sich ‘punktförmig’ konzentriert und nicht etwa räumlich ‘verschmiert’ verbreiten. Außerdem gab die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts eines der seltsamsten Rätsel auf, vor das sich das physikalische Verständnis von Raum und Zeit jemals gestellt sah. Die Quantentheorie und die Relativitätstheorie schickten sich an, die tradierte Physik komplett umzukrempeln. Noch ist kein Ende abzusehen. Alles erscheint in einem anderen Licht. Aber was alles haben wir noch gar nicht zu Gesicht bekommen?

[1] Eugene Hecht, Optics, 4. ed., San Francisco, Boston, New York 2002, p.494

(Copyright by Peter Gold)

Es entscheidet der Augen-Blick

Als 1888 die von George Eastman produzierte Kodak Camera – mit dem eigens ausgedachten, in verschiedensten Sprachen leicht aussprechbaren Kunstwort ‚Kodak’ als Trademark – auf den Markt kam, die unter dem Slogan ‚You press the button, we do the rest’ von der Eastman Kodak Company vertrieben wurde, brach die Ära des ‚snapshots’ in der Fotografie an. Das Fotografieren wurde zu einer Beschäftigung immer breiterer Kreise, um geeignet erscheinende Augenblicke und für fotogen erachtete Ansichten mit der Kamera aufzunehmen, ohne daß es besondere Umstände machte oder bestimmte Fachkenntnisse verlangte. Die fotografischen Bilder waren kreisförmig mit einem Durchmesser von 2½ Zoll, und das Filmmaterial bestand zu Anfang aus aufgerolltem beschichtetem Papier, das für 100 Aufnahmen ausreichte, wurde aber 1889 durch den ersten Rollfilm auf Zelluloidbasis abgelöst.

‚American film’ oder ‚transparent film’ genannt, eignete sich das aufrollbare Aufnahmematerial zur Verbesserung und Verkleinerung des Fotoapparats. Die trotz der Optik hölzern und ledern wirkende Zieharmonika sollte sich schrittweise in ein metallisches Präzisionsgerät verwandeln. Aus der ‚Camera’ wurde ein ‚Apparat’. Bis dahin war es allerdings noch ein weiter Weg.

Die Kodak No.1, wie sie bezeichnet wurde, war mit einem Fixfokus-Objektiv der Lichtstärke f/9 ausgestattet, das an einer Entfernung von 2.5m bis unendlich scharfzeichnete, und die Verschlußgeschwindigkeit betrug 1/25 sec. An der Kamera gab es keinen Sucher, und ein Filmwechsel war nur im Werk selbst möglich, wozu sie komplett eingeschickt wurde und neu geladen zurückkam – wobei die entwickelten und im Kontaktabzug belichteten Positive, auf Karton aufgezogen, mitgeliefert wurden.

Worauf es ankam war, im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken. Zu fotografieren und fotografiert zu werden, war lebendiger geworden als je zuvor. Das flexible Filmmaterial hatte zudem bewegte Bilder ermöglicht. Fotografie und Kinofilm trennten sich, doch das Format des Films teilen sich bald beide.

Prototypen der legendären ‚Leica’ – Lei(tz) Ca(mera) – wurden 1913 von Oskar Barnack, motiviert durch dessen eigenen Bedarf, bei der optischen Firma Leitz konstruiert, die auf Mikroskope spezialisiert war. Die Weiterentwicklung des Konzepts und dessen Umsetzung in ein entsprechendes Fabrikat verzögerte sich jedoch wegen des Kriegs. Erst seit 1923 wurde ein Modell serienmäßig hergestellt, zunächst in einer Kleinserie, bis 1924 die Entscheidung fiel, die Kamera in Serie zu fertigen. Seit 1925 wurde die Leica I auf dem Markt angeboten. Die mit standardmäßigem 35mm-Kinofilmmaterial arbeitende, ebenso handliche wie zuverlässige Kamera aus Metall galt als fototechnische Innovation sondergleichen. Was unter anderem daran lag, daß das ‚Kleinbildformat’ des perforierten Films eine enorme Kompaktheit des Kameragehäuses zuließ. Die technische Finesse der Leica legte einen andersartigen Fotografiestil nahe, bekannt geworden als ‚Leica-Fotografie’ im Sinne von ‚Live-Fotografie’, um Schwerfälliges und Gestelltes beim Fotografieren möglichst abzustreifen. Was zuvor aussichtslos gewesen wäre, weil die Technik noch nicht ‚mitspielte’, wurde jetzt zum stilistischen Merkmal eines ungezwungenen fotografischen Blicks, der sich der Beschaulichkeit entledigte ohne die Genauigkeit preiszugeben.

Ausgestattet war die Leica mit einem Objektiv von 50mm Brennweite und einer Öffnung von f/3.5, sowie mit einem Schlitzverschluß, der für Verschlußzeiten von 1/20 bis 1/500 sec ausgelegt war. Bei dem extrem kleinen Negativformat von 24x36mm – das sich durch die Verdopplung der Bildhöhe des üblichen Kinobildformats ergab – war man auf eine präzise Optik samt ausgefeilter Mechanik angewiesen, wie sie die Leica eben bot. Und die bei nachfolgenden Leica-Modellen verfügbaren Wechselobjektive unterschiedlicher Brennweiten und Lichtstärken, versehen mit einheitlichem metrischen 39mm-Schraubgewinde zum Anschluß an das Kameragehäuse, taten ein übriges, um die Leica zu einem immer flexibleren Präzisionswerkzeug zu machen, welches sich zudem unauffällig einsetzen und unaufwendig handhaben ließ. So stellte die Verwendung der miniaturisierten Leica mit je 36 Aufnahmen auf einer Rolle des 35mm-Films eine attraktive Alternative zu anderen Apparaten mit anderen Bildformaten dar, welche als Filmmaterial lichtempfindlich beschichtete Glasplatten, Rollfilme oder Planfilme benutzten. Allerdings litt die Kleinbildfotografie anfangs noch an zu grobkörnigen Emulsionen, die die optische Schärfe der fotografischen Abbildung minderten, bevor sie im Laufe der 30er und 40er Jahre erheblich verbessert wurden, so daß feinkörnige Vergrößerungen die Qualität der Optik erst richtig zum Tragen brachten.

Welche Faszination von der nach und nach noch weiter verbesserten Technik der Leica, ihrem feinmechanisch-metallischen Äußeren im Vergleich zum klobig wirkenden, hölzern-ledernen Erscheinungsbild großformatiger Kameratypen ausging, läßt sich unschwer nachvollziehen; und die immer noch anhaltende Nachfrage nach jener Linie von Sucherkameras neben neueren und weit aufwendigeren Kamerakonstruktionen, wie die der einäugigen Spiegelreflex, spricht für sich. Die Entwicklung und Einführung der Leica stellte einen Wendepunkt dar, der eine Umorientierung der Fotografie mit sich brachte. Wie die Leica anschließend sowohl technisch als auch ästhetisch überall Schule machte, ist unverkennbar. Nicht von ungefähr hat sich die japanische Kameraindustrie zunächst an leicht abgewandelten Nachbauten der Leica versucht und bestens bewährt, bis sie durch eigene bahnbrechende Entwicklungen die technologische Führungsrolle beim Bau modernster Kameras übernahm. Auch ästhetisch setzte die Kleinbildfotografie mittels der Leica und ihren diversen Ablegern deutliche Zeichen, die aus der Fotografiegeschichte nicht mehr wegzudenken sind. Wenn sich manche Fotografen wie ein Henri Cartier-Bresson ganz der Leica verschrieben, so gewiß nicht ohne Grund.

Für das 35mm-Format wurde 1932 die Contax von Zeiss-Ikon herausgebracht, mit der bemerkenswerten Öffnung f/1.5, und für ein quadratisches Negativformat von 6x6cm war 1929 die zweiäugige Spiegelreflex namens ‚Rolleiflex’ – für ‚Rollfilm-Reflex’ – von Franke & Heidecke entwickelt worden. Es waren durchdachte Konstruktionen, doch bei solchen Konzeptionen sollte es nicht bleiben. Statt bloßer Weiterentwicklung stand etwas an, das zu einer weiteren Wende in der fotografischen Technik führte. Es ging um die Realisation der Idee einer einäugigen Spiegelreflexkamera (SLR = Single Lens Reflex) mit Wechseloptik.

Im Jahr 1936 stellt die Firme Ihagee die ‚Kine-Exakta’ – kurz ‚Exakta’ genannt – als erste einäugige Spiegelreflexkamera vor, und zwar für das 35mm-Kleinbildformat des erstmals von der Leica verwendeten Kinofilms. Im Lichtschachtsucher der Kamera ist das vom Objektiv entworfene Bild zu erblicken, indem es mittels eines Spiegels auf eine Mattscheibe gelenkt wird. Zur Aufnahme wird jener bewegliche Spiegel automatisch aus dem Strahlengang geklappt, damit das vom Objektiv einfallende Licht statt der Mattscheibe den Film erreicht, sobald sich der unmittelbar vor der Filmebene ablaufende Schlitzverschluß öffnet. Wird der Auslöser der Kamera betätigt, setzt sich zuerst der Klappmechanismus des Spiegels in Gang, bevor der Verschluß ausgelöst wird. Die Konstruktion und die Funktion einer einäugigen Spiegelreflex ist alles andere als unproblematisch, denn es werden hohe Anforderungen an die exakte Justierung, an die Geschwindigkeit sowie an die Erschütterungsfreiheit der Mechanik gestellt, sonst liefert die Kamera keine einwandfreien Bilder. Bei der Exakta hatte man diese Problematik in den Griff bekommen, doch waren längst nicht alle weiteren Probleme, wie sie bei der Handhabung einer solchen Kamera auftreten, zufriedenstellend gelöst.

„It was the forerunner of today’s SLR, but many improvements to its features were needed before it reaches the sophistication of present cameras. Imagine the problems. Using a 1936 Exakta the first thing you notice is that the image on the screen appears reversed left to right. And if you turn the camera on its side to take a vertical picture the image appears upside-down!

To achieve best definition you need to stop the lens down to about f11, making the picture dim to compose and focus. Exposure settings have to be guessed from tables or measured with a separate hand meter. Firing the shutter leaves you with a completely black focusing screen, because the mirror stays up until you wind on the film. And finally, after every shot you must open up the lens aperture form its previous stopped-down setting, to clearly compose and focus your next picture. The new 35 mm size SLR was mechanically complex and expensive, but was the first small hand camera which allowed really accurate composing and focusing. And it had the potential for fitting interchangeable lenses. Gradually each disadvantage which put people off SLR design would be overcome.” [Langford, Story of Photography, p.76]

Als 1948 die einäugige Spiegelreflex von Victor Hasselblad für das quadratische 6x6cm-Negativformat entwickelt wurde, war es, wiederum wegen des Krieges, um die Weiterentwicklung der Spiegelreflextechnologie noch nicht viel besser bestellt, doch sollte sich das in der Nachkriegszeit zusehends ändern.

„As the lens and camera industry struggled to re-establish itself in a divided post-war Europe the Japanese began to design and manufacture precision cameras. They seemed more able to relate to new technology and apply skills of mass production. Development of the 35 mm SLR was of special Japanese interest. In 1948 lens aperture pre-setting was introduced by Pentax, allowing you to rapidly alter the lens from maximum (for focusing) to the taking aperture without taking your eye away from the focusing screen. In East Germany Zeiss Ikon were first to fit a pentaprism block of glass over the focusing screen (of the Contax S) to make the SLR usable at eye level – with the image right-way round and remaining upright when the camera is used on its side. Next, in 1954, Pentax introduced the first return mirror, restoring the image to the focusing screen of their cameras immediately after exposure. When miniaturized electronics appeared in the 1960s Pentax were also one of the first with a system of ‘through-the-lens’ light metering. […]

Single lens reflex cameras soon developed into ‘systems’. Each manufacturer – Nikon, Canon, Pentax, Minolta – built up their own range of lenses, data backs, motor drives etc., making their camera bodies ever more versatile. As always, the SLR allowed you to see exactly the image which would be recorded on film.” [Langford, Story of Photography, p.77]

Woraus sich zwanglos die Namensgebung der ersten einäugigen Spiegelreflexkamera, der Exakta, erklärt.

(Copyright by Peter Gold)

Permutation(en)

Wiederum der Thematik Schattierung(en) gewidmet, zeige ich zwei quadratische Bilder, die sich aus einzelnen Fotografien desselben Motivs zusammensetzen. Die Fotografien werden als Versatzstücke verwendet, und sind absichtlich so fotografiert worden, daß bei deren Zusammensetzung das Ganze seinen Bestandteilen ähnlich sieht, allerdings auf etwas trügerische Weise.

Nicht an Komposition ist gedacht, nur an Permutation(en). Minimalistische Mittel und schematische Anordnung, vertauschte Fotografien und verwechselbare Schattierungen in Fotografien, so etwas läßt sich ausnutzen, um bildlich darzustellen, was sich im Bild selbst nirgends wiederfindet und ohne Uminterpretation oder Überinterpretation nicht sichtbar werden würde. Durch Permutation(en) läßt sich die Interpretation verwirren. Wodurch erst bewußt wird, worin die Interpretation besteht.

Jedes der beiden quadratischen Bilder setzt sich aus jeweils zwölf einzelnen Fotografien zusammen. Ob beide Bilder aus denselben Fotografien bestehen, ob alle zwölf Fotografien voneinander verschieden sind, und worin die Unterschiede zwischen ihnen bestehen, ist alles andere als leicht zu sehen. Nur daß beide Bilder nicht gleich sind, ist ohne weiteres zu erkennen.

Permutation(en)

Permutation(en) #1

Permutation(en) #2

Es sieht aus, als gäbe es nichts als Wiederholungen in beiden Bildern. Dasselbe Motiv wird in jedem Bild zwölfmal abgebildet. Wird jedoch danach gefragt, was es denn ist, das wiederholt abgebildet wird, schwindet die anfängliche Übersichtlichkeit zusehends.

Als Permutation(en) werden nämlich Bildbestandteile im doppelten Sinne gegeneinander ausgetauscht. Zum einen lassen sich die einzelnen Fotografien untereinander vertauschen, wobei es insgesamt 12! = 479001600 verschiedene Möglichkeiten gibt, die sich meist zum Verwechseln ähneln. Zum anderen gibt es einen Wechsel der Schattierung(en) zwischen je zwei Fotografien, wodurch sich die Deutung der scharf oder unscharf wiedergegebenen Bereiche und Grenzen ändert, die wegen der Helligkeitsabstufung voneinander trennbar sind. Es handelt sich übrigens um Farbfotografien. Zwischen ihnen findet also ein (externer) Platzwechsel statt, sowie ein (interner) Bedeutungswechsel, so daß nicht nur die äußere Anordnung der Fotografien, sondern zugleich deren innerer Aufbau als veränderlich erscheint. Beabsichtigt war, wie gesagt, daß sich die einzelnen Fotografien insgesamt zu einer Form des Ensembles zusammenschließen, welcher die Form des Motivs entspricht, ohne daß letzteres im Detail fotografisch abgebildet würde.

Jedes der beiden quadratischen Bilder gibt das Motiv wieder, vervielfacht oder verwürfelt, aber nicht verzerrt und nicht unähnlich. Trotzdem stellt sich bei der Betrachtung eine Täuschung ein. Was wie ein Treppengeländer erscheint, stellt zwar ein Geländer dar, aber eine Treppe gibt es nicht. Was es gibt, in der Abbildung wie in Wirklichkeit, ist ein schräg verlaufender Schattenwurf, kein schräges Geländer. Wer sich die Fotografien im einzelnen ansieht, sieht deutlich, woher der illusorische Eindruck rührt. Es ist ja nicht unsichtbar, was Unschärfe, was Schattenwurf und was Abschattungen durch Über- oder Unterbelichtung sind. Wegen verwechselter und vertauschter Schattierung(en) schließt sich das Bild anscheinend zu einem Ganzen zusammen. Jenem Gesamteindruck fügen sich indessen die verschiedenen Fotografien, aus denen es zusammengewürfelt ist, nicht.

Geländer, Wand, Schattenwurf, weiter ist nichts abgebildet worden. Abhängig vom Sonnenstand, ebenso von der Einstellung des Apparats bei der Aufnahme, wechseln die Schattierungen, und die Bedeutung von Schattierungen im Bild ändert sich ebenfalls. Da zur Aufnahme die Schärfe eingestellt wurde, jedesmal anders, nicht ohne die Blende zu verstellen oder die Belichtung zu verändern, um Einfluß auf die Abbildung zu nehmen, sieht es immer wieder anders aus, was unter gleichbleibendem Blickwinkel aufgenommen worden ist. Einmal ist ein unscharfer Schatten zu sehen, ein andermal ein unscharfes Geländer, oder ein scharfer Schatten sieht wie das Geländer aus, das selbst unscharf erscheint und auf den ersten Blick für einen Schatten gehalten wird. Einmal ist sieht die Wand weiß aus, ein andermal grau. Einmal ist eine Wand zu sehen, ein andermal scheint sie gar nicht vorhanden zu sein, nur weil die Tiefenschärfe zu gering ist. Als Schattierung(en) wiedergegeben, wird manches miteinander verwechselbar, und da die Interpretation auf Stimmigkeit aus ist, verlangt sie nicht nur die Deutung, sondern auch die Umdeutung von Schattierung(en).

Die minimalistisch angelegte Zusammenstellung mit durchgängigen horizontalen und diagonalen Linien, welche durch die Wahl des Ausschnitts zustandekommt, der bei allen Fotografien immer derselbe bleibt, erweckt einerseits den Eindruck eines zusammenhängenden Gebildes. Andererseits sind alle einzelnen Felder durch unterschiedliche Helligkeit deutlich voneinander abgesetzt, sowohl im Ganzen des Bildes als auch innerhalb jeder einzelnen Fotografie. An den Rändern der einzelnen Fotografien gibt es keine kontinuierlichen Übergänge zur benachbarten Fotografie, so daß die Regelmäßigkeit der Diskontinuitäten den vermeintlichen Bildzusammenhang zerstückelt und ein Muster erzeugt, nämlich das Gittermuster, welches den geradlinigen Kanten der Versatzstücke entspricht. Als Linienmuster korrespondiert es in gewisser Weise dem in jeder Fotografie selbst abgebildeten Muster, nämlich das eines dunklen Geländers, dessen Schatten auf eine helle Wand fällt. Der Schatten an der Wand zeigt die Form des Geländers, allerdings in perspektivischer Projektion durch das einfallende Licht, während das Geländer selbst nur mit zwei vertikalen Verstrebungen im Bildausschnitt auftaucht. An der fotografischen Wiedergabe ist nichts zu deuteln, und doch verändert die Deutung den Blick unwiderruflich.

(Copyright by Peter Gold)

Schattenwurf

Bei einem typischen Diptychon oder Triptychon wird eine inhaltliche Verbindung durch die äußerliche Zusammenstellung zweier oder dreier Bilder angedeutet, die es bei der Deutung des Gehalts der zusammengestellten Bilder zu beachten gilt. Deren Bildinhalt ist ein gemeinsam geteilter. Äußerlichkeiten weisen darauf hin. Es ist, als ob die äußere Verklammerung von Bildern ihrem innerem Zusammenhang geschuldet ist, um einen Deutungsanspruch einzulösen, der sich nicht auf das je einzelne Bild beschränkt. Bilder absichtlich nebeneinander zu stellen und gemeinsam vorzuführen, bindet sie wechselseitig in einen Kontext ein, wozu es keines Textes bedarf.

Mehrere Bilder äußerlich zusammenzustellen, setzt voraus, daß sie innerlich zusammengehören. Umgekehrt bewirkt eine äußerliche Klammerung zwischen Bildern anscheinend eine inhaltliche Verschränkung ihrer Bedeutung. Die Wirkung tritt unweigerlich ein, als kämen die Bildinhalte miteinander in Berührung, wenn die Bilderrahmen sich zu nahe kommen. Nach und nach scheint ein Bild aufs andere abzufärben. Lückenlos fügt sich eines ins andere. (Selbst wenn die Bilder nicht mit Scharnieren aneinandergeschraubt und übereinandergeklappt werden, so daß keine Lücke zwischen ihnen aufklafft, wenn sie gelegentlich auseinandergeklappt werden, um einen Blick darauf zu werfen.) Ist das nicht etwas seltsam?

Eigentlich nicht, schließlich besteht ein einzelnes Bild ebenfalls aus aneinanderhängenden Teilen, die lückenlos zu sehen und ebenso lückenlos zu deuten sind, damit das einzelne Bild wie ein einheitliches Bild wirkt. Fraglich ist nur, ob es überhaupt eine Bedeutung gibt, die allen Ansprüchen an Eindeutigkeit und Einheitlichkeit genügt. Ist sie nicht offensichtlich, so ist danach zu suchen. Uneingelöste Deutungsansprüche sind unabweisbar.

Es bei der Deutungslosigkeit zu belassen, scheidet aus, wenn das einzelne Bild oder die Zusammenstellung mehrerer Bilder als Ganzes erscheinen soll, um etwas ganz Bestimmtes darzustellen. Daß sich auf einer schwarzweißen oder farbigen Fotografie irgendetwas darstellt, anders als auf einer angestrichenen Tapete, ist prima facie anzunehmen, kontrafaktisch, ungeachtet dessen, daß es sich manchmal als Irrtum erweist. Jemals vom Gegenteil auszugehen, wäre nicht ratsam, allenfalls eine indifferente Haltung ließe sich einnehmen, vorsichtshalber. Doch wo sich uneingelöste Deutungsansprüche geltend machen, werden stimmige Deutungsmöglichkeiten unterstellt. Ob die Deutung scheitert oder nicht, Undeutbarkeit wird niemals das letzte Wort sein. Jener Symmetriebruch steuert die Situation bei jeder Interpretation.

Was es mit den drei folgenden Fotografien auf sich hat, die dasselbe zeigen, was sich auf einer Tapete zeigt (um es vorwegzunehmen), hat wieder mit Schattierung(en) zu tun. Die nacheinander gezeigten Fotografien kann man sich als ein Triptychon vorstellen, wobei die visuelle Wirkung von Abschattungen eine wechselnde Rolle spielt. Welche, und wie sie sich ändert, wird deutlich, wenn die drei Bilder nur flüchtig und nicht gleichzeitig betrachtet werden. Daß es einen engen Zusammenhang zwischen ihnen gibt, ist nicht zu übersehen. Werden die Fotografien nebeneinandergestellt, um sie miteinander zu vergleichen, verliert sich die anfängliche Wirkung zusehends, bis die irritierende Uneindeutigkeit des Abgebildeten einer eindeutigen Beziehung zwischen allen Bildelementen gewichen ist. Ohne Kontext sähe einiges anders aus.

Nicht auf den begleitenden Text kommt es an, sondern allein auf den bildlichen Kontext, wie er sich in der Abfolge oder Zusammenstellung dreier Fotografien von allein einstellt. Weil man bei der Betrachtung des jeweiligen Bildes die jeweils vorangegangenen nicht aus dem Blick verliert, kommt es zur Kontextbildung und zur Wiedererkennung. Eben dies geschieht von allein, wozu zusätzlicher Text unnötig ist. Wiedererkennung stellt, nicht nur epistemologisch, eine Bedingung von Erkenntnis sowie von Erfahrung dar. Daß die Fähigkeit, (irgend-) etwas wiederzuerkennen, weder auf Konventionen noch auf Verbalisierung angewiesen ist, versteht sich von selbst. Wiedererkennung ist für Visualisierung unerläßlich, sonst würde man kein Bild, keine Abbildung, und sei es die auf der eigenen Netzhaut, sequentiell ‘abtasten’ können, ohne zu ‘vergessen’, was man schon ‘wahrgenommen’ hat und was noch nicht. Doch nun zu den drei Fotografien, die nacheinander vorgestellt werden, ohne sich länger dabei aufzuhalten. Es reicht aus, einen ‘oberflächlichen’ Eindruck zu gewinnen. Er vertieft sich von selbst.

Im ersten Bild erscheint für einen Augenblick ein räumlich anmutendes Gebilde, diagonal, länglich, körperhaft, voluminös, wenn auch nicht näher identifizierbar. Es scheint an einer Stelle offen oder geöffnet zu sein, wie durch einen gekerbten Einschnitt, so daß der Blick ins aufklaffende Innere fällt, ohne etwas erkennen zu können, weil es dort zu dunkel ist. Die Oberfläche dagegen wirkt grell beleuchtet, ist seitlich entsprechend abgeschattet, und weist eine gewisse Textur auf. Es gibt anscheinend ein Inneres und ein Äußeres des undeutlich sichtbaren Gebildes, das sich deutlich vom Hintergrund abhebt. Wie gesagt, nur für einen Augenblick.

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Der erste Blick trügt offenbar. Was im Bild zu sehen ist, sieht eigenartig aus, vor allem, wenn man einmal die hellste Fläche ins Auge faßt? Nicht scharf begrenzt, auch nicht unscharf abgebildet, weder verschwommen noch ausgefranst, eher ausgespart. Als wäre der dunkle Hintergrund pastellartig aufgetragen worden und die helle Fläche wäre frei geblieben. Im Vergleich zur glatt verlaufenden Unterkante des Gebildes, die sich offensichtlich vom Hintergrund abhebt, geht die Oberseite des Gebildes kontrastreich und trotzdem konturlos in den Hintergrund über, ohne in den Vordergrund zu rücken. Was keinen Sinn macht, fotografisch gesehen, so daß das Bild stellenweise oder zeitweise das charakteristische Aussehen einer Pastell- oder Kreidezeichnung auf rauhem Untergrund annimmt. Die Fotografie als solche stimmt nicht. Oder stimmt es nicht, daß es sich um eine Fotografie handelt? Die nächste Fotografie sieht etwas anders aus, und die Irritation löst sich buchstäblich in Nichts auf.

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Auch die letzte Fotografie, die auf den ersten Blick wieder etwas anders aussieht als die beiden vorangegangenen, kann nichts mehr daran ändern, daß die Räumlichkeit zugunsten der Flächigkeit verschwunden ist, denn es ist längst klar, daß es sich auf dem ersten Bild genau wie auf dem zweiten um nichts als Schattenwurf handelt, und die Textur an allen Bildstellen dieselbe, nämlich die der Fläche ist, auf welche der Schatten fällt. Gleichwohl gibt es etwas, das auffällt, nämlich die farbigen Lichtreflexe, die jetzt aber nicht mehr als Reflexe eines dreidimensionalen Gegenstands sondern als Lichtflecken auf der durchgängigen Fläche deutbar sind, um die Zweidimensionalität des Sichtbaren nicht in Frage zu stellen.

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Es wird ein Kontext ohne expliziten Text erzeugt, wenn die Fotografien nebeneinander gestellt oder nacheinander vorgestellt werden. Indem zwischen den drei Bildern eine auffällige Ähnlichkeit von Formen und Farben zu bemerken ist, wodurch sie sich als Bilder unmittelbar aufeinander beziehen lassen, entschlüsseln sie sich gegenseitig, um es paradox auszudrücken. Mit dem Resultat, daß sie sich als verschiedene Fotografien desselben Motivs deuten lassen, dessen Identität als solche in Erscheinung tritt. Es ist nichts weiter als ein flächiges Phänomen: Schattenwurf eben. Was man erblickt, ist bloß noch Tapete. Eine irreversible Konvergenz der Interpretation stellt sich ein, unwiederholbar in ihrer sukzessiven Genese, und unvergessen bei jeder nachträglichen Rückschau, so daß das in den einzelnen Bildern Sichtbare nachher anders aussieht als zuvor. In der Retrospektive ist die Irritation nicht mehr spürbar, und es ist nichts mehr sichtbar, was unkenntlich wäre.

Es erübrigt sich eigentlich, das Triptychon nochmals zu zeigen, zumal bei schlechterer Auflösung der diagonale Verlauf der Schattierung, die sich über die drei Teile legt, kaum noch zur Geltung kommt. Trotzdem ist es vielleicht noch einen abschließenden Blick wert.

PG - Schattenwurf

(Copyright by Peter Gold)

Schattierung(en)

Unter dem Arbeitstitel »Schattierung(en)«, einem aktuellen Fotografie-Projekt von Gamma, geht es darum, Schatten oder Schattierungen in fotografischen Aufnahmen als Phänomene zu zeigen, die zwischen Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit schweben und als solche verwechselbar oder umdeutbar sind. Die konstitutive wie auch die irritierende Wirkung von Schattierungen oder Abschattungen, ihre belanglose oder störende Rolle, ihr zufälliges oder zeichenhaftes Aussehen, hängt mit der intendierten Bedeutung von fotografischen Bildern zusammen, die als Fotografien ihren eigenen Gegenstandsbezug wesentlich durch kontinuierlichen Schattenverlauf, konturierte Abstufung oder disparaten Schattenwurf gewinnen. Schatten entscheiden, ob die Vorstellung von Gegenständen mit der Darstellung von Gegenständen, wie sie in der Fotografie aussehen, übereinstimmt oder nicht. Ist beides nicht ohne weiteres zur Deckung zu bringen, wird der ungebrochene Gegenstandbezug der Fotografie außer Kraft gesetzt, die Gegenständlichkeit selbst bricht auseinander, oder die Schatten nehmen ihrerseits eine vermeintlich gegenständliche oder zeichenhafte, wenn auch undeutliche oder undeutbare Gestalt an.

Die Irritation bei der Betrachtung von Gegenständen und die Konstitution des Aussehens von Gegenständen, die mit deren Schattierung(en) einhergeht, wirkt bei fotografischen Aufnahmen deutlicher oder versteckter, je nachdem, ob eine Klärung, eine Störung, eine Umordnung oder eine Umdeutung von bildlich gezeigten dreidimensionalen Formen eintritt, die sich in schattierten zweidimensionalen Flächen mit sich überschneidenden eindimensionalen Konturen darstellen. Anhand einer Fotografie ist die Zuordnung oder Trennung von schattierten und konturierten Flächen nicht so unzweideutig wie in der unmittelbar wahrnehmbaren Wirklichkeit, weil es keine Möglichkeit zur Änderung des Blickwinkels gibt, unter dem die Koppelung oder Entkoppelung von Bildelementen besser erkennbar wäre. Außerdem werden viele kontextuelle Bezüge durch Grenzen des Ausschnitts oder durch begrenzte Tiefenschärfe ausgeblendet, und es werden alle Kontraste der Abbildung durch die fotografische Umsetzung während und nach der Aufnahme beeinflußt. (Daß das Informationsdefizit zweidimensionaler Fotografie deren Interpretationsspektrum erweitert, ist schon anhand von Stereoskopie oder Holografie unübersehbar, und auch die filmische Sequentialität korrelierter Bilder arbeitet der Zweidimensionalität des einzelnen Bildes entgegen.)

Es ist offensichtlich, daß und wie unsere Sicht der Wirklichkeit von Schattierung(en) und Abschattung(en) abhängig ist, ohne die wir keine Erscheinungen, keine Gegenstände und keine Zeichen im Kontinuum des Sichtbaren auszumachen oder im Kontext der Interpretation herauszulesen imstande wären. Nicht offensichtlich ist, ob und wo in unseren Bildern der Wirklichkeit die Schatten oder Tonwerte den gegenständlichen oder zeichenhaften Deutungen zuwiderlaufen, die wir bei der Betrachtung von Bildern anstelle des Abgebildeten vornehmen.

Vielleicht ist es keine lösbare Aufgabe, in Fotografien darzustellen, wie Fotografien etwas darstellen. Vielleicht ist es eine leichtere Aufgabe, fotografisch darzustellen, was eine Fotografie als Darstellung gar nicht oder anders wiedergibt, als es in der unmittelbaren Wahrnehmung erscheint. Fotografisch reizlos ist es gewiß nicht. Wo wäre anzusetzen, was wäre abzubilden? Ohne die fotografische Abbildung als solche anzutasten, läßt sie sich womöglich ins Zwielicht setzen, wenn man es fotografisch darauf anlegt. Worauf es ankommt, sind scheinbare Anomalien bei der Abbildung, die der Normalität des Abgebildeten anscheinend in die Quere kommen. Nicht, daß etwas auf gewissen Fotografien anders aussieht, als es normalerweise wahrgenommen wird, sondern daß etwas auf gewissen Fotografien aussieht, als sei es etwas anderes, ist die Crux.

Um die Thematik auf Schattierung(en) einzugrenzen, und in fotografischen Aufnahmen die Wirkung eines Schattens oder einer Helligkeitsabstufung auszunutzen, um eine uneindeutige Bildstruktur aufzuspannen, an der die unbewußte Bildinterpretation in eine bewußte(re) umschlägt, ist auf zweierlei zu achten: Zum einen auf die unbewußte Umwandlung der schattierten Flächigkeit des Abbilds in die scheinbare Räumlichkeit des Abgebildeten, die sich durch Deutung des abgeschattet Erscheinenden einstellt und durch dessen Mißdeutung gestört oder gar umgekehrt wird. Zum anderen ist der bewußte Übergang zwischen bezugsloser Dinghaftigkeit und zeichenhafter Verweisung von etwas auf anderes wichtig. Beide Aspekte, die referenzlose Realität und die arbiträre Symbolizität, gehören zu jener zwielichtigen Sphäre des Sichtbaren, in der es zur fotografischen Abbildung von etwas kommt, das sich nicht nur in wechselnden Formen und Gestalten zeigt, sondern mit anderem verwechselbar ist, wenn es nicht wie gewohnt gezeigt wird.

In oberflächlicher Schattierung, im abgelösten Schattenwurf, in durchsichtiger oder undurchsichtiger Abschattung, in schemenhafter Unschärfe, in abgedunkelter Undeutlichkeit, in verwischten Umrissen und flüchtigen Lichtspuren verschwinden eindeutige Grenzlinien und feste Bezugspunkte zusehends, so daß die raumzeitliche Defokussierung und Akkumulation des Lichts neben oder anstelle der geometrischen Struktur und Separation der Dinge in fotografischen Aufnahmen wieder aufscheint, wenigstens für einen Augenblick.

Es ist die Sphäre des Lichts, nicht die Sphäre der Dinge, die fotografisch gezeigt wird. Was gedacht wird, ist nicht dasselbe. Was nämlich die Fotografie als solche ausmacht, ist allein die Aufnahme von Lichtverhältnissen, nicht unbedingt die Wiedergabe von Gegenstandsbeziehungen. Gegenständliches in Schattierung(en) zu überführen, wird durch Licht oder Beleuchtung bewirkt, und die Fotografie zeichnet jene Wirkung auf. Licht aber, und darin liegt keine seltsame und keine unbeabsichtigte Blickwendung, ist nicht bloß zur Beleuchtung von anderem da, sondern es ist selbst etwas, das in der Fotografie in Erscheinung tritt. Nicht ohne Schattierung(en).

(Copyright by Peter Gold)

Blow-Up

Michelangelo Antonioni hat in seinem inzwischen als klassisch geltenden Film Blow Up (1966) auf subtile Weise die fotografisch wie malerisch relevante Problematik des visuellen ‘Weltbilds’ dargestellt, eine Thematik, die Brian de Palma aufgegriffen und in seinem Film Blow Out (1981) auf die akustische ‘Weltanhörung’ (akroasis) übertragen hat. Die fotografische Aufnahme oder die Tonaufnahme stehen in einem unmittelbareren Kontakt zur Realität als das Auge oder das Ohr eines Anwesenden, der manches übersieht oder überhört. Erst im fotografischen Bild und im aufgezeichneten Geräusch wird Vergangenes vergegenwärtigt, und die Gegenwart selbst wird entwertet, weil sie jene, die an ihr beteiligt und in ihr befangen sind, überfordert. Ohne den zwischengeschalteten Apparat nimmt man nicht wahr, was geschieht, und was der Apparat aufnimmt, wird zu einer zeitversetzten Quelle von Erfahrung. Eine vermittelte Wahrnehmung, post festum, die der Unmittelbarkeit der aktuellen Situation an Evidenz gleichkommt, während sie beliebig wiederholt oder wiedergeholt wird. Die Fotografie war sich von Anfang an im Klaren darüber, wie weit die Vergangenheit in die Gegenwart verlegt wird, wenn sie fotografisch aufbewahrt und aufgebläht wird. Jene Pointe des Blow-Up nahm Henry Fox Talbot (1844) vorweg:

»Wenn man gut durchgearbeitete Fotografien studieren will, empfiehlt sich der Gebrauch einer großen Lupe, […]. Diese vergrößert die dargestellten Objekte um das zwei- bis dreifache und enthüllt eine Fülle winziger Details, die man vorher nicht realisiert hat. Es geschieht überdies häufig, daß der Fotograf selbst bei einer solchen späteren Überprüfung entdeckt, daß er viele Dinge aufgezeichnet hat, die ihm zur Zeit der Aufnahme entgangen waren – und das macht zu Teilen den Charme der Fotografie aus. Manchmal findet man Inschriften und Daten auf Gebäuden oder ganz unbedeutende Anschläge; manchmal erkennt man das entfernte Zifferblatt einer Uhr und auf ihr – unbewußt festgehalten – die Uhrzeit, zu der die Aufnahme gemacht wurde.«

»It frequently happens, moreover – and this is one of the charms of photography – that the operator himself discovers on examination, perhaps long afterwards, that he has depicted many things he had no notion of at the time. Sometimes inscriptions and dates are found upon the buildings, or printed placards most irrelevant, are discovered upon their walls: sometimes a distant dialplate is seen, and upon it – unconsciously recorded – the hour of the day at which the view was taken.«

(Copyright by Peter Gold)